Jakobsweg – Tag 40

Tagesetappe: 53 Kilometer / Gesamtstrecke: 1256 Kilometer

IMG_20151102_113644-1024x768Es ist der 2. November, der vierzigste Tag seit wir Eos verlassen haben, mit dem Ziel den Jakobsweg nach Santiago de Compostela zu pilgern und im Anschluß das Cabo Finisterre zu erreichen.

Um 9 Uhr ist alles startklar für die letzten 53 Kilometer.
Heute ist der Tag gekommen, auf den wir so lange hingefiebert haben.
Gestern Abend ist mit dem Camino Primitivo bereits der schwierigste Weg zu Ende gegangen. Er war das absolute Highlight der Reise. Der Primitivo hat uns an die Grenzen des Machbaren gebracht. Er hat uns physisch und psychisch gefordert. Aber er hat uns dafür belohnt, wie kein anderer Weg bisher in unserem Leben.
Die Geschichten, die wir dort oben erlebt haben, werden sicherlich irgendwann einmal erzählt werden. Heute soll es in erster Linie um die letzte Etappe auf dem Jakobsweg gehen.

Vor uns liegt der französische Weg, der Camino Frances. Man kennt ihn vielleicht aus Büchern und Erzählungen anderer Pilger, denn er ist der Jakobsweg, der von den meisten Menschen begangen wird. Und das merkt man. Wo wir auf dem Primitivo manchmal keinen einzigen Pilger am Tag getroffen haben, kommt man hier aus dem „Buen Camino“ wünschen gar nicht mehr raus. Ich schätze, dass wir auf diesen 53 Kilometern in etwa genau so vielen Pilgern begegnen, wie auf den ersten 1203 zusammen! Und das im November.
Meistens sind die Pilger auf diesem Jakobsweg genauso entspannt wie überall sonst auch. Aber es gibt einige wenige Schattenseiten, die wir bisher noch nicht erlebt hatten. Manche Pilger sind gestresst, gehetzt, laut, haben keine Zeit. In der Pizzeria will manch einer der erste sein und der kleine Mann aus China geht total unter und verlässt irgendwann genervt das Restaurant am Wegesrand, das sich auf die Verpflegung von Pilgern spezialisiert hat.
Unterwegs begegnen wir noch „Pilgern“ die betteln, einem Duo das unschwer erkennbar unter Drogen steht und einer Pilgerin mit Esel, die ihren armen Gefährten mit einem Seil prügelt, weil er nicht schnell genug läuft!
Der Camino selbst kann dafür nichts. Er ist wunderschön. Ich nenne ihn mal den Pilgerhighway, im positiven Sinne. Sehr gepflegt, kaum Unebenheiten, so breit, dass drei Pilger bequem nebeneinander laufen können. Die Steigungen sind kaum der Rede wert und die Landschaft wirklich schön anzusehen.
Wir können den Camino Frances also trotz einiger etwas merkwürdiger Gesellen genießen und fahren mit dem Luftdruck, den wir sonst nur auf Asphalt einstellen würden, so glatt ist der Weg meistens.
An diesem Tag begegnen wir irgendwann einem Pilger der auch schon etwas länger unterwegs ist. Wir laufen eine Weile gemeinsam mit Guilleaume aus der Schweiz und stellen bald fest, dass wir nicht die einzigen sind, die nach der Abgeschiedenheit auf dem Primitivo einen leichten Kulturschock erleben. Auch er ist schon sehr lange unterwegs und erst seit kurzer Zeit auf dem Camino Frances.
Etwas später treffen wir überraschend David aus Antwerpen wieder. Er ist ebenfalls über den Camino Primitivo gegangen. Wir haben ihn zuletzt auf dem Camino del Norte gesehen. Nicht nur er hat uns auf diesem Weg überholt, wir waren im Schnitt langsamer als andere Pilger zu Fuß. Fahrräder sind auf dem Primitivo eben kein Vorteil, im Gegenteil.
Heute allerdings können wir sie noch einmal richtig gut gebrauchen. Es macht unheimlich viel Spaß, damit auf dem Frances unterwegs zu sein und wir träumen schon laut von einem Jakobsweg Revival, auf eben diesem Weg von Anfang an. Wenn, dann aber wohl nur im Winter.

Als wir am Nachmittag so langsam in die Nähe von Santiago kommen, drosseln wir immer mehr das Tempo. Oft schieben wir nur noch, wollen diese letzten Kilometer genießen, wollen eigentlich auch noch gar nicht so richtig ankommen. Es sind gemischte Gefühle. Einerseits freut man sich auf das Ende, auf die Belohnung, ist körperlich ausgebrannt. Andererseits könnte es am liebsten immer so weiter gehen. Morgens die Taschen an die Räder, die Rucksäcke auf und die Flasche in den Halter drücken.
So geht es heute vielen auf dem Camino. Nur ein paar wenige preschen vorbei, als hätte man in Santiago nur noch Restbestände an Compostelas auf Lager.

Als wir dann am frühen Abend in die Stadt einbiegen, wird uns etwas mulmig. Wie wird das wohl werden, wenn wir vor der Kathedrale stehen? Was macht man dann eigentlich?
Auf den letzten Metern begegnen wir noch einmal einigen gut gelaunten, entspannten Pilgern. Manche singen, pfeifen, machen Kunststücke mit ihrem Wanderstock. Ich schaffe nochmal ein kleines Stück nur auf dem Hinterrad. Die letzten „Buen Camino“ – Rufe sind besonders fröhlich.
Dann sehen wir die Glockentürme. Ein letztes Mal müssen wir eine kleine Treppe nach unten, dann stehen wir auf dem großen Platz vor der Kathedrale in Santiago de Compostela.
Stehen einfach erstmal nur da und schauen uns um.
Begreifen erst mit der Zeit ein wenig. Schauen eine ganze Weile die Kathedrale an, haben weiche Knie und feuchte Augen. Die ganze Last fällt plötzlich von uns ab.
Eigentlich war Santiago in unseren Köpfen am Anfang dieser Reise nur ein Zwischenziel auf dem Weg zum Kap. Und auch heute waren wir uns sicher, dass wir nur schnell ein paar Fotos machen, in eine Pension gehen und morgen früh weiter fahren. Wir wollten uns auch nicht die Compostela abholen und nicht in die Pilgermesse gehen.
Jetzt stehen wir hier und alles ist unerwartet ganz anders. Es hat nichts mit religiöser Offenbarung zu tun, denn aus religiösen Gründen haben wir diese Pilgerfahrt nicht gemacht.
Wir fühlen uns einfach angekommen. Fühlen, dass unser Jakobsweg genau zum richtigen Zeitpunkt, am richtigen Ort zu Ende ist.
Wir bleiben noch eine ganze Weile, lassen uns von einigen interessierten Touristen fotografieren, machen selbst ein paar Fotos, treffen ein Pilgerpaar aus Australien.
Dann gehen wir langsam zur Pension, bringen die Fahrräder in den Keller, drehen noch eine Runde durch die Stadt und essen Süßkram vom Bäcker.

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Morgen werden wir uns dann die Compostela abholen, ein wenig entspannen und zusehen, dass wir wieder etwas Reserven in unsere Körper bekommen.
Ob wir dann noch vor dem 10. November (dann geht unser Flug nach Düsseldorf) bis ans Kap fahren, wissen wir jetzt noch nicht. Momentan fühlen wir uns hier in Santiago de Compostela am Ziel angekommen.

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